Lebensverlaufsperspektiven

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Berufswahl

Die Berufs- und Studienfachwahl ist ein entscheidender Faktor für die geschlechtsspezifische Lohndifferenz: Typische Frauenberufe werden vergleichsweise schlechter bezahlt als solche mit einem überproportionalen Männeranteil.

Wonach treffen Frauen und Männer ihre Berufswahl? Schülerbefragungen des BIBB zu Berufsimages ergaben, dass Mädchen und Jungen den Nutzen ein- und desselben Berufes für ihr Image unterschiedlich beurteilen: Mädchen versprechen sich von sozialen Berufen ein höheres Image, Jungen von technischen Berufen. Andere belegen, dass Frauen eher Berufe wählen, von denen sie vermuten, dass sie sich gut mit Familienaufgaben vereinbaren lassen. Das führt dann dazu, dass sie häufig Dienstleistungsberufe ergreifen (während die Jungs in die Produktion gehen) und sich im akademischen Bereich überproportional häufig für Sprach- und Kulturwissenschaften sowie Sport (72 Prozent) und Lehramtsstudiengänge (71 Prozent) entscheiden. Auch in der Medizin sind mehr als zwei Drittel der Erstimmatrikulierten weiblich – allerdings verdienen die angestellten Ärztinnen statistisch 23% weniger als die angestellten Ärzte, und das trotz Tarifvertrag.

Letzteres zeigt, dass die Berufswahl allein die Verdienstlücke nicht erklären kann. Es spricht einiges für die These, dass eine geschlechterparitätische Durchmischung der Berufe und Branchen eine Angleichung der Einkommen befördert. Dazu wird eine Ausweitung des Berufswahlspektrums von Jungen und Mädchen am „Girls Day“ und „Boys Day“ angestrebt – Mädchen sollen dann zum Beispiel für technische Berufe und Jungen für soziale Berufe begeistert werden. Ziel muss jedoch sein, alle Berufe nach ihrem tatsächlichen Wert für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft zu entlohnen. Erst dann ist Art. 157 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union umgesetzt: „Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher“.

Anreize und Fehlanreize

Das Sachverständigengutachten zum Gleichstellungsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass in Ermangelung eines gemeinsamen Leitbildes in der Gleichstellungspolitik gleichzeitig Anreize für ganz unterschiedliche Lebensmodelle gesetzt werden oder dass oft die Unterstützung in der einen Lebensphase in der nächsten abbricht oder in eine andere Richtung weist. Beispiele:

• Der Verknappung des Arbeitsangebots infolge der demografischen Entwicklung soll durch eine längere Lebensarbeitszeit (Anhebung des Rentenalters und Abschaffung des Vorruhestands) und eine Erleichterung der Zuwanderung begegnet werden, gleichzeitig werden im Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht aber starke Anreize zur Begrenzung des Arbeitsangebots von Frauen gesetzt.

• Nach Abschluss der Elterngeldphase sind weder Kinderbetreuung noch flexible Arbeitszeiten garantiert. Oder: In der Erwerbstätigkeit kann man von Vollzeit auf Teilzeit wechseln, hat dann aber keine adäquaten Rückkehrrechte auf Vollzeit.

• Für verheiratete Paare, in denen ein Partner ein gutes Erwerbseinkommen erwirtschaftet, werden Anreize für die Wahl eines Allein- oder Zuverdienermodells gesetzt. Bei Arbeitslosigkeit gilt im Bereich des SGB II hingegen die Erwartung an eine vollumfängliche Erwerbsbeteiligung aller Erwerbsfähigen in der Bedarfsgemeinschaft. Damit werden auch solche Frauen auf den Arbeitsmarkt verwiesen, deren Erwerbsmöglichkeiten nach langen Jahren der Erwerbsunterbrechung stark eingeschränkt sind.

Gleichstellung wird häufig nur als Kostenfaktor gesehen. Natürlich entstehen Kosten durch die gleiche Bezahlung von Frauen oder die Schaffung einer gesellschaftlichen Infrastruktur für Kinderbetreuung und Pflege, die bislang unbezahlt in Haushalten erledigt wurden. Es wird aber übersehen, welch hohes wirtschaftliches Potenzial in einer Gleichstellung der Geschlechter liegt. Bislang liegen hohe Investitionen in die Bildung von Frauen, die die Gesellschaft aufgebracht hat, brach oder sind in unterwertige Beschäftigung fehlgeleitet. Gleichzeitig entstehen durch die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht nur neue wirtschaftliche Nachfragen, sondern auch neue Beschäftigungsverhältnisse, vor allem im Dienstleistungsbereich. Die Finanzierung der Sozial- und Steuersysteme wird stabilisiert, wenn Frauen vollwertige Beitragszahlerinnen werden und nicht nur abgeleitete Ansprüche nutzen.

Lebensverlaufsperspektive

In Umbruchphasen der Politik und der Lebensentwürfe in der Bevölkerung ist die Lebensverlaufsperspektive für die Gleichstellungspolitik unerlässlich. Sie ermöglicht erstens einen Blick „aufs Ganze“: Interventionen in einzelnen Lebensphasen werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern in ihren Zusammenhängen.

Zweitens können kritische „Knotenpunkte“ oder „Übergänge“ zwischen den Teilsystemen identifiziert werden. Die Bedeutung der Übergänge erschließt sich drittens erst durch die kumulativen Folgen für die Gleichheit von Männern und Frauen im Lebenslauf. Zwischen den Lebensphasen bestehen enge Zusammenhänge (Klammer 2004). So bestimmt die schulische und berufliche Ausbildung in starkem Maße das gesamte Lebenseinkommen. Eine Ehescheidung, der Wechsel in Teilzeit, eine Erwerbsunterbrechung oder eine unterlassene Weiterbildung können „Narben“ hinterlassen („scar effects“), die lange nachwirken.

Viertens erkennt man, welche Akteure entscheidend sind. Über einen Teil dieser Übergänge im Lebenslauf entscheiden die Eltern, wie etwa den Kindergartenbesuch, die Auswahl der Schule und teilweise noch die Auswahl der Ausbildung. Im Erwachsenenalter werden die Entscheidungen überwiegend allein oder in Abstimmung mit dem / der LebenspartnerIn getroffen.

Fünftens ermöglicht die Lebensverlaufsperspektive eine nachhaltige, auf langfristige und dauerhafte Wirkungen angelegte Politik, indem sie nicht alleine auf kurzfristige Effekte, sondern auf Wirkungen im gesamten Lebenslauf schaut. Man kann dies als die „ökologische“ oder Nachhaltigkeits-Dimension der Lebenslaufpolitik bezeichnen (Allmendinger 1994: 36). Eine solche Politik erfordert nicht nur politikfelderübergreifendes Agieren. Sie muss auch reflexiv sein und umsteuern oder nachkorrigieren, wenn die Interventionen nicht die erwartete Wirkung erzielen. Die Wissenschaft ist bei der Evaluation nicht weniger als die Politik zu fachübergreifender Kooperation gezwungen.

Sechstens kann man schließlich feststellen, wie sehr ein Beschäftigungs- und Wohlfahrtssystem Abweichungen von der Norm und Pluralität akzeptiert.

Teufelskreis

Der „Teufelskreis der statistischen Diskriminierung“ beruht auf dem ökonomischen Modell der sich selbst erfüllenden Erwartungen: Hiernach schätzen Arbeitgeber die Arbeitsproduktivität aufgrund von (statistischen) Durchschnittserwartungen, da sie sie nicht genau feststellen können. Da Frauen allgemein noch wesentlich häufiger von der Elternzeit Gebrauch machen bzw. danach in Teilzeit gehen, wird bei weiblichen Mitarbeitern unterstellt, dass Erwerbsunterbrechungen oder -reduzierungen einzuplanen sind. Folglich nehmen Personalchefs generalisierend an, dass Frauen weniger produktiv sein werden. Weil sich betriebsspezifische Weiterbildungsmaßnahmen aber für Frauen weniger lohnen würden, wenn man ihnen eine geringere Produktivität unterstellen müsste, verschlechtern sich deren Weiterbildungs- und Aufstiegschancen aufgrund dieser Vermutung auch dann, wenn sie sich tatsächlich gar nicht von männlichen Mitarbeitern unterscheiden. Als Reaktion auf die Benachteiligung passen Frauen ihr Verhalten an. Sie ziehen sich aus dem Erwerbsleben zurück oder unternehmen weniger berufliche Anstrengungen. Die Erwartungen der Firmen erfüllen sich damit im Grunde selbst.

Auf diese Weise ist es möglich, dass Frauen anders behandelt werden als Männer, obwohl sie in allen beobachtbaren Merkmalen identisch sind. Wenn Unternehmen Frauen unterstellen, dass sie ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen werden, werden sie unter Umständen weniger in ihre Weiterbildung investieren, weil eine Erwerbspause die Erträge aus der Weiterbildungsmaßnahme reduziert. Sie werden Frauen tendenziell seltener befördern, um die Positionen nicht in absehbarer Zeit wieder neu besetzen zu müssen. Auch werden sie unterstellte Produktivitätseinbußen aus einer potenziellen längeren Erwerbsunterbrechung in die Lohnsetzung miteinbeziehen, wenn diese langfristig ausgerichtet ist.

Quellen

BMFSFJ (2011). Neue Wege - Gleiche chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebenslauf. Erster Gleichstellungsbericht. Drucksache 17/6240.

BMFSFJ (2009). Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern in Deutschland. Dossier.

Eberhardt/Ulrich (2006). BIBB-Schülerbefragung zu Berufsbezeichnungen

Großkurth/Reissig (2009). Geschlechterdimensionen im Übergang von der Schule in den Beruf – zitiert nach Gleichstellungsbericht, S. 97 ff.

Factsheets zum ersten Gleichstellungsbericht Pdf-icon.gif Download PDF

Gutachten zum zweiten Gleichstellungsbericht

Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland

Siehe auch

Girls' Day

Boys' Day

Klischee frei

Memorandum Neue Vereinbarkeit

Roland Berger Strategy Consultants: Neue Vereinbarkeit